Montag, 17.September 2018, Kalenderzimmer Kloster Lamspringe, Beginn 19:30Uhr
Karten: 25€ inkl. Gebühren
Philosophischer Salon Kloster Lamspringe
„Die Kunst des Zweifelns“
Oder „die Haltung, die imstande ist, das Zweifelhafte zu genießen“
„Die wissenschaftliche Haltung,“ schrieb der Philosoph John Dewey einmal, „kann beinahe definiert werden als die Haltung, die imstande ist, das Zweifelhafte zu genießen.“ Diese Bemerkung steht nicht nur im Spannungsverhältnis zu seinem sonstigen Denken, sondern auch zur Philosophietradition des Westens insgesamt, die tendenziell von einem Willen zur Gewissheit getragen ist. Zweifel stellen darin ein – wenn auch unumgängliches – Durchgangsstadium dar, welches zugunsten begründeter Überzeugungen (und bestenfalls Gewissheiten) wieder zu verlassen ist. Diese Tendenz lässt sich auch im alltäglichen Denken und, in zugespitzter Form, im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima wiederfinden: Angesichts globaler Verunsicherungen nehmen Rechtspopulismus und religiöser Fundamentalismus zu. Gemeinsam ist ihnen, Zweifel mit Unlust, Gewissheit mit Lust in Verbindung zu bringen. Zweifel werden sogar teilweise mit Verzweiflung, mit Depression, Scham oder Schuld in eins gesetzt.
Der Vortrag zeigt, dass diese Tendenz auf einem Missverständnis basiert. Die Kunst des Zweifelns besteht hingegen darin, Ambivalenz aufzublenden. In dieser Aufblendung werden die eigenen selbstverständlichen Kriterien überhaupt erst wahrnehmbar und dadurch verhandelbar. Zweifel sind die Grundlage der zwanglosen Neujustierung unserer eigenen Kriterien, in dieser Hinsicht sind sie eng verwandt mit ästhetischen Erfahrungen. Die Fragwürdigkeit des Selbstverständlichen wird am eige
nen Leib spürbar, damit zugleich die Ahnung einer Alternative, und in dieser Ahnung wohnt die Lust. Das Zweifelhafte zu genießen bedeutet, die Ahnung des Neuen willkommen zu heißen. Darin liegt emanzipatorisches Potenzial, denn es beinhaltet auch, sich von vorgegebenen Denkmustern zu verabschieden, sich also nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen.
Mit: Kant, Dewey, Arendt, Butler, Rancière, u.a.
Heidi Salaverría (Hamburg), Dr. phil., Philosophin und Kulturschaffende.
Studium und Forschungsaufenthalte in Hamburg, Buenos Aires, Philadelphia. Forscht gegenwärtig zu einer politischen Ästhetik des Zweifels. Leitungsteam des internationalen Kunstprojekts Hyper Cultural Passengers (http://hyperculturalpassengers.org/).
Vorträge, Workshops, Seminare, (Lecture-)Performances, Kunstaktionen u.a. in: ICI Berlin, ZKM Karlsruhe, Musikhochschule Nürnberg, Kampnagel Hamburg, Berlinische Galerie Berlin, Universidad de Castilla Toledo, Pact Zollverein Essen, SFB „Kulturen des Performativen“ Freie Universität Berlin, Università Roma Tre Via, Staatstheater Stuttgart, Kunsthalle Bremen, Klagenfurt, u.a.
Veröffentlichungen zum Thema: „The Beauty of Doubting (Political Reflections on a Rebellious Feeling),“ Between the Ticks of the Watch (Chicago: The Renaissance Society at the University of Chicago, 2017) pp 153-183. „Im Zweifel unfertig denken: Einspruch gegen den Willen zur Gewissheit,“ in: Zum hundertjährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung,“ www.theorieblog.de, 2016. „Critical Common Sense, Exemplary Doubts, and Reflective Judgment,“ in: Confines of Democracy. The Social Philosophy of Richard Bernstein: Essays on the Philosophy of Richard Bernstein, ed. Ramón de Castillo, Ángel M. Faerna, Larry A. Hickman, New York 2015, pp. 157-169. Erwiderung von Bernstein, ibid., 169-171. „Ungeregelte Zweifel. Zur politischen Urteilsbildung im Denken Shklars und Rancières“ in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 62, Heft 4, Sept. 2014, 708-727. „Enjoying the Doubtful. On Transformative Suspensions in Pragmatist Aesthetics,“ in: European Journal of Pragmatism and American Philosophy, Volume 4, Number 1, 2012, pp. 247-254. Erwiderung von Richard Shusterman: ibid., pp. 267-276.